G. Ebeling, Wort und Glaube, II, Tübingen 1969, pp. 287-304.
„Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?“[1]
Bemerkungen zu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus
Es ist auffallend, daß Luther überhaupt so fragt: ,,Was ist das gesagt und wie verstehet man’s? Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?”[2] Nach üblicher Auffassung stand wie für das Mittelalter so auch noch für Luther das, was „Gott” heißt, so selbstverständlich fest, daß sich die Frage danach erübrigte. Erst wenn das Wort „Gott” unverständlich geworden ist, ist es angebracht, nach seinem Sinn zu fragen. Deshalb wirkt Luthers Fragestellung im Großen Katechismus überraschend modern. Wider Erwarten scheint sie mit Menschen zu rechnen, denen das Wort „Gott” nichts mehr bedeutet, die mit ihm nicht mehr sinnvoll umzugehen wissen.
Diese Interpretation ist jedoch vorschnell. Die Formulierung der Frage, mit der Luther die Erklärung des ersten Gebots eröffnet, ist durch dessen Wortlaut provoziert: ,,Du sollst nicht andere Götter haben.” Luther setzt in der Tat ein so selbstverständliches Wissen um das voraus, was Gott heißt, daß er dessen gewärtig sein muß, das erste Gebot werde überhaupt nicht mehr als etwas ernst genommen, was einem zu schaffen machen könnte. Selbstverständlich habe man nicht andere Götter. Um gegen den Trug solcher Selbstverständlichkeit anzugehen und so das erste Gebot als Herausforderung verstehen zu lehren, muß Luther erklären, was hier in der Wendung „Du sollst nicht andere Götter haben” Gott heißt. Weil man selbstverständlich zu wissen meint, was Gott heißt, hat man vergessen, was das Wort „Gott” in der Vielfalt der Götter heißt. Und weil man vergessen hat, was die Götter sind, hat das Wissen um Gott seine Konkretion verloren. Man weiß nicht mehr, daß die Frage, was Gott ist, die andere impliziert oder richtiger: durch die andere erst expliziert wird, nämlich: Was heißt einen Gott haben?
Wird die Frage so gestellt, dann läßt sie sich nicht mit der Definition oder Beschreibung einer Substanz in deren Für-sich-Sein beantworten, vielmehr nur durch den Aufweis der Situation, in der das Reden von Gott seinen Erfahrungsbezug und seine Notwendigkeit beansprucht. Deshalb behandelt Luther die beiden Fragen als austauschbar: „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?” und beantwortet sie, obschon dem Anschein nach getrennt, doch der Sache nach miteinander: »Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also, daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben…”[3]
Es scheinen zwar eigentlich zwei verschiedene Fragen zu sein, die deshalb auch verschieden zu beantworten sind: die nach dem Sein Gottes und die nach dem Gott Haben. Das eine Mal kommt Gott als Subjekt in Betracht, im andern Fall erscheint Gott als Objekt, während der Mensch das implizite Subjekt des Gott Habens ist. Das erste, so sollte man meinen, ist die Voraussetzung des zweiten. Man muß wissen, was Gott ist, um sinnvoll die weitere Frage zu stellen, was es heiße, einen Gott zu haben, was das angemessene Verhältnis des Menschen zu ihm ist und inwiefern es überhaupt möglich ist, in ein Verhältnis zu ihm zu treten, Umgang mit ihm zu haben, von einem Verkehr des Menschen mit Gott zu reden.
Der Einwand liegt nahe, es laufe auf eine fatale Verschiebung der Fragestellung hinaus, wenn die Frage nach dem Sein Gottes und die Frage nach dem Gott Haben, nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott, ineinander gemengt werden. Die erste droht dann aufzugehen, besser: unterzugehen in der zweiten. Das Sein Gottes verschwindet in dem Verhältnis zu Gott und wird schließlich auf eine Bestimmung des Seins des Menschen reduziert. Doch auch nicht einmal auf das Sein des Menschen ist dabei gezielt, sondern nur auf ein Haben des Menschen. Wie er vieles andere hat und haben kann, so kann er anscheinend auch einen Gott haben, ohne dadurch in seinem Sein getroffen zu sein. Das Sein des Menschen gilt vielmehr als die selbstverständliche Basis und Bedingung des Gottesverhältnisses.
An den Luthertext diese Reflexion anzuknüpfen und gegen ihn den Verdacht auf eine solche Verschiebung der Fragestellung zu erheben, ist freilich schon Folge und Ausdruck neuzeitlichen Problembewußtseins. Ein Blick auf Hegel mag das verdeutlichen. Im ersten Teil seiner Vorlesung über die Philosophie der Religion[4] wird zunächst „von Gott” und dann von dem „religiösen Verhältniß” gehandelt[5]. In dem „Von Gott” überschriebenen Abschnitt beantwortet er die Frage „Was Gott ist” mit Bestimmungen wie: ,,daß Gott das absolut „Wahre, das an und für sich Allgemeine, Alles Befassende, Enthaltende und Allem Bestandgebende ist”[6]. Oder auch: ,,Gott ist die absolute Substanz, die allein wahrhafte Wirklichkeit.”[7] Bei dem Übergang zum zweiten Abschnitt unter der Überschrift: ,,Das religiöse Verhältniß”, heißt es dann: ,,In der Lehre von Gott haben wir Gott als Objekt schlechthin nur für sich vor uns: freilich kommt dann auch die Beziehung Gottes auf die Menschen hinzu, und während dieß nach der frühem gewöhnlichen Vorstellung nicht wesentlich dazu gehörig erschien, handelt dagegen die neuere Theologie mehr von der Religion als von Gott: es wird nur gefordert, der Mensch soll Religion haben, dieß ist die Hauptsache und es wird sogar als gleichgültig gesetzt, ob man von Gott etwas wisse oder nicht; oder man hält dafür, es sey dieß nur ganz etwas Subjectives, man wisse eigentlich nicht, was Gott sey.”[8]
Diese Polemik, die, ohne Namen zu nennen, sich offensichtlich zumindest auch gegen Schleiermacher richtet, kritisiert die Verschiebung der Thematik: von der Gotteslehre auf eine Lehre von der Religion, von der Lehre vom Sein Gottes auf eine Lehre vom Gott Haben, also von dem Gottesverhältnis. Damit sei dann der Akzent so sehr auf das religiöse Bestimmtsein des Menschen gesetzt, daß darüber die Frage, was Gott sei, entschwinde und sogar ausdrücklich als unwichtig eingeschätzt werde. Nun will Hegel gewiß nicht gegenüber der neueren Theologie einfach der Anwalt der älteren, scholastischen Theologie sein. Zwar hebt er diese lobend gegen jene ab: man habe „im Mittel alter mehr das Wesen Gottes betrachtet und bestimmt”. Aber er schränkt diese Anerkennung gleich durch das Eingeständnis ein, daß man so nicht mehr verfahren könne. ,,Wir haben die Wahrheit anzuerkennen, die darin liegt, daß Gott nicht betrachtet wird getrennt vom subjectiven Geiste, aber nur nicht aus dem Grunde, daß Gott ein Unbekanntes ist sondern deswegen, weil Gott wesentlich Geist, als wissender ist. Es ist’ also eine Beziehung von Geist zu Geist. Dieses Verhältniß von Geist zu Geist liegt der Religion zu Grunde.”[9] Dementsprechend kann auch Hegel die Frage nach dem Sein Gottes nicht stellen, ohne dabei ausdrücklich auf das Gott Haben reflektieren zu müssen: ,,In der Lehre von Gott haben wir Gott als Object schlechthin nur für sich vor uns.”[10] Damit wird nicht eine zufällige Formulierung auf eine bestimmte Fragestellung hin gepreßt. Hegel selbst hatte in jenem einleitenden Abschnitt über Gott der anfänglichen Bestimmung Gottes als absoluter Substanz den weiteren Reflexionsschritt folgen lassen: ,,Dieser Anfang ist Gegenstand für uns; oder Inhalt in uns; wir haben diesen Gegenstand; so ist die unmittelbare Frage: wer sind wir?”[11]
Diese Reflexion auf den Menschen als das Subjekt, welches den Gottesgedanken denkt, präzisiert Hegel als Frage nach der näheren Ortsbestimmung des Redens von Gott. „Wir, Ich, der Geist ist selbst ein sehr Concretes, Mannigfaches: ich bin anschauend, sehe, höre etc. – Alles das bin ich, <ließ Fühlen, Sehen. Der nähere Sinn dieser Frage ist also: nach welcher jener Bestimmungen ist dieser Inhalt für unsere Sinne? Vorstellung, Wille, Phantasie, Gefühl? – welches ist der Ort, wo dieser Inhalt, Gegenstand zu Hause ist? welches ist der Boden dieses Gehalts?”[12] Nach Hegel kann also gar nicht von Gott „als Objekt schlechthin nur für sich” die Rede sein, ohne daß man sich darüber Rechenschaft gibt, inwiefern diese Weise von Gott „als Objekt schlechthin nur für sich” zu reden, im Menschen ihren Ort hat. Und er beantwortet dies folgendermaßen: ,,Nehmen wir dieß Eine vor uns und fragen: für welches unserer Vermögen, Thätigkeiten des Geistes ist dieses Eine, schlechthin Allgemeine? so können wir nur die entsprechende Thätigkeit unsres Geistes nennen als den Boden, worauf dieser Inhalt zu Hause seyn kann. Das ist das Denken.”[13] Der Unterschied zu Schleiermacher besteht also nicht hinsichtlich der Notwendigkeit einer solchen Ortsangabe. Das Sein Gottes muß unter Einbeziehung der Frage nach der Weise, wie der Mensch Gott hat, bestimmt werden. Das ist beiden gemeinsam, nur daß Schleiermacher das Gefühl[14], Hegel dagegen das Denken als den Ort des Seins Gottes im Menschen bestimmt.
Luthers Katechismustext darf selbstverständlich nicht unmittelbar im Lichte dieser um drei Jahrhunderte jüngeren Reflexion idealistischer Philosophie interpretiert werden. Nun könnte man allerdings auf eine sehr einfache Weise versuchen, die Schwierigkeit zu beheben, daß in Luthers Auslegung des ersten Gebots anscheinend verschiedene Frageebenen ineinander geraten sind. Die Wendung „Gott haben” ist durch den Dekalog-Text vorgegeben. Der zugrunde gelegte Wortlaut des ersten Gebots ist erst in späteren Katechismusdrucken zu der uns geläufigen, gegen Ex 20, 2 f freilich immer noch verkürzten Form erweitert worden: ,,Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.” Ursprünglich hatte Luther seiner Auslegung nur die knappe Verbotsform aus Vers 3 vorangestellt: ,,Du sollst nicht andere Götter haben.” Dieser Text gab keinen direkten Anlaß, von dem Sein Gottes zu sprechen, vielmehr nur davon, was es heiße, einen Gott oder Götter haben. Greift man auf den Urtext zurück, so gerät man freilich mit der anscheinend so scharfen Unterscheidung von Sein und Haben in Verlegenheit. Der hebräischen Syntax entsprechend fehlt in der Präambel des Dekalogs die Kopula. Sie ist in dem Wortlaut … selbstverständlich impliziert und deshalb überflüssig. Bei dem Verbot, andere Götter zu haben, wird hingegen gerade das hebräische Wort für „sein” verwandt, freilich in der Bedeutung von „haben” infolge der beigefügten präpositionalen Verbindung …. Die Präposition … bedeutet, daß etwas auf etwas zu, gegenüber etwas, für etwas ist oder geschieht. Verneint wird hier also, daß zur Person Jahwes hinzu andere Götter das Volk Israel etwas angehen. Die Septuaginta übersetzt wörtlich: …. Es heißt bezeichnenderweise nicht: …, ,,es gibt nicht, es existieren nicht andere Götter neben mir”. Vielmehr heißt es: ,,Für dich sollen keine andern Götter zu Jahwe hinzu Geltung haben.” Oder kurz: ,,Andere Götter gehen dich nichts an.” Nicht die Existenz anderer Götter wird bestritten, wohl aber zugemutet, die Existenz anderer Götter nicht zu beachten, sie nicht Götter sein zu lassen.
Auch diese Interpretation geht schon über das hinaus, was dem Hebräer bei der Aussage ins Bewußtsein tritt, daß andere Götter für ihn nicht in Betracht kommen. Er unterscheidet nicht zwischen einem „Sein an und für sich” und einem „Sein für mich”, jedenfalls nicht in diesem Fall. Er reflektiert nicht auf die abstrakt gestellte Existenzfrage, da für ihn die Frage konkret gestellt ist als die an ihn herantretende Versuchung, nun doch zu Jahwe hinzu und das heißt dann in Widerspruch zu Jahwe andere Götter sich etwas angehen zu lassen, sie zu verehren. Das erste Gebot richtet sich nicht an das Vermögen theoretischen Erkennens, das die Frage nach dem Lebensverhältnis zum Erkannten vorläufig auszuschalten imstande ist. Es wäre ja auch sinnlos, dem theoretischen Erkennen etwas gebieten oder verbieten zu wollen. Ihm kann sich nur etwas darbieten oder nicht, je nachdem ob sich ihm ein Phänomen zeigt oder nicht und damit eo ipso die Wahrnehmung erzielt oder nicht. Das Gebieten und Verbieten wendet sich an den Willen, an das Verhalten des Menschen. Deshalb hat das erste Gebot nicht die Frage theoretischer Gotteserkenntnis im Blick, sondern die Frage der Gottesverehrung. Es geht hier nicht, wie man sagt, um Statuierung eines Monotheismus, sondern um Anspruch auf Monolatrie. Doch selbst solcher Antithetik gegenüber ist Vorsicht geboten. Obschon im biblischen Begriff des Gott Erkennens dem hebräischen … entsprechend das Umgang Haben mit Gott bestimmend ist, so ist doch dadurch nicht der Gesichtspunkt des Erkennens überhaupt eliminiert, sondern nur in besonderer Weise geprägt. Entsprechend schließt die Konzentration auf das „nicht andere Götter haben” die Seinsfrage nicht aus, impliziert sie vielmehr, wenn auch in anderer Ausprägung als in der griechischen Denktradition.
Deshalb wäre es zu billig, das Auffallende an Luthers Interpretation des ersten Gebots durch die Bemerkung abzuschwächen: der zugrunde liegende Text rede eben nur vom Gott Haben. Luther hat den genuinen Sinn dieser der Vulgata entnommenen Wendung (non habebis Deos alienos) erfaßt, wenn er das Haben sofort als „halten für” erklärt: ,,Das ist, Du sollst mich alleine für Deinen Gott halten”[15] und dann die Verstehensfrage folgendermaßen anschließt: ,,Was ist das gesagt und wie versteht man’s? Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?”[16] Statt die Rede vom Sein Gottes auf die Wendung Gott haben zu reduzieren, öffnet er die Wendung „Gott haben” zu der Frage nach dem Sein Gottes hin. Freilich nicht in dem Sinne, daß in bezug auf ein bereits vorausge setztes Gottesverständnis nur noch das Existenzurteil ausstünde. Vielmehr geht die Formulierung „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?” der Frage nach dem Sein Gottes an die Wurzel, indem sie zu bedenken gibt, in welchem Sinne und in welcher Weise überhaupt vom Sein Gottes gesprochen werden kann.
Der Gedanke ist an sich nicht neu, daß der Sinn des Wortes „Gott” von der Gottesverehrung her zu bestimmen sei. Augustin formuliert: Quod unusquisque colit et veneratur, hoc sibi deus est[17]. Die Geschichte dieser Formel sowie deren Einwirkung auf die Auslegung des ersten Gebots verdienten eine gründliche Untersuchung. Es ist zu vermuten, daß sich dabei der überragende auslegungsgeschichtliche Rang von Luthers Erklärung zum ersten Gebot eindrücklich abzeichnete.
Nun beschränkt sich Luther aber nicht darauf, das, was Gott ist, vom Akt der Gottesverehrung her zu bestimmen. Er präzisiert die Situation der Gottesverehrung in zweifacher Hinsicht, indem er angibt, was in die Situation der Gottesverehrung nötigt und wodurch sie ihre Erfüllung erfährt. Die Situation, die durch das Wort „Gott” angesprochen wird, ist die Notsituation des Menschen, die ihn bei sich selbst nicht Genüge haben läßt, sondern ihn dazu treibt, nach dem Ort Ausschau zu halten, von woher er das Rettende erwarten, wohin er sich deshalb wenden und wo er, gerettet, seine Bleibe haben darf. ,,Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.”[18] Damit ist nicht nur die Notwendigkeit bezeichnet, die zum Reden von Gott treibt: nämlich alles, was dem Menschen Not bereitet. Zugleich ist auch ausgesprochen, worin die Gottesverehrung besteht: in nichts anderem als in dieser Erwartung, in der Zuflucht suchenden Bewegung. Also nicht in Leistungen, die einen Anspruch auf Hilfe, ein Recht auf Zuflucht begründeten. Daß sich der Mensch mit seiner Notsituation völlig identifiziert und dem Ort der Erwartung und Zuflucht zukehrt, ist die einzige Weise, wie Gott verehrt, als Gott ernst genommen wird. Gottesverehrung ist deshalb nichts als Glaube. Die Notsituation ist nur dann Erläuterung dessen, was Gott heißt, wenn sie als Situation des Glaubens verstanden ist. Was Gott heißt, kann darum nicht deutlich werden, ohne daß zugleich deutlich wird, was Glauben heißt: ,,Also daß ein Gott haben nichts anderes ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben … „[19]
Ist nicht aber das Gottesverständnis viel zu eng gefaßt, wenn es an die Situation gebunden wird, die – in welcher Weise auch immer – die soteriologische Frage weckt? Nun meint Luther zweifellos nicht, durch die Bemerkung „dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten” eine spezielle und akzidentelle, nur gelegentlich auftretende Situation des Menschen zu kennzeichnen. Er will damit die Grundsituation des Menschen ansprechen, freilich in einer Weite und Unbestimmtheit im einzelnen, daß ungemein verschiedenartige Konkretionen darunter begriffen sind. Daß man einzelne von ihnen isoliert zum Schlüssel des Verständnisses macht, kann zur Ursache aller Arten von Verzerrung und Verkehrung des Gottesverständnisses werden. Luther erwähnt mit grimmigem Spott, daß man aus den Heiligen ein göttliches Spezialistentum für konkrete Notsituationen wie Pestilenz, Feuersbrunst oder Zahnweh gemacht habe[20]. Allerdings will er aus seiner Situationsbestimmung „in allen Nöten” die Pein etwa des Zahnwehs nicht ausgeschlossen haben. In gewisser Hinsicht ist es sogar ein Kriterium dessen, ob man recht erfaßt hat, was Gott heißt, daß die Erwähnung selbst des Zahnwehs in diesem Zusammenhang nicht von vornherein als sinnlose … erscheint. Eben deshalb muß das Feld für die mannigfaltigste Konkretion menschlicher Situationen offengehalten werden, weil die zur Bestimmung des Wortes ,,Gott” angesprochene Situation die Grundsituation des Menschen ist.
Dietrich Bonhoeffers bekannter Einspruch dagegen, daß das Reden von Gott in den Grenzsituationen verankert wird und man menschliche Schwächen ausnützt, um apologetisch noch irgendwo Raum für Gott auszusparen, darf schwerlich als Einwand gegen Luthers Bestimmung des Wortes „Gott” vorgebracht werden. Wenn Bonhoeffer sagt: … ,,ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen”[21], so wird man dies sicher nicht so verstehen dürfen, als sei von Gott gerade da zu reden, wo er überflüssig und der Mensch nicht schlechterdings auf ihn angewiesen ist. Um Gott nicht zum Lückenbüßer zu erniedrigen, muß im Gegenteil die Frage nach der Notwendigkeit des Redens von Gott unerbittlich scharf gestellt werden. Dann dürfen in der Tat nicht etwa zufällige Randsituationen das Verständnis des Angewiesenseins auf Gott einengen und verfälschen. Der Mensch als solcher, also gerade auch der gesunde und erfolgreiche Mensch, stellt die Situation dar, die das Wort „Gott” sinnvoll sein läßt. Daß sie – trotz aller berechtigten Vorbehalte und Korrekturen gegenüber naheliegenden Verkürzungen – als Notsituation zu interpretieren ist, deckt sich mit dem Anspruch, den das Wort „Gott” erhebt, nämlich den Menschen – mit Schleiermacher zu reden – auf seine schlechthinnige Abhängigkeit hin anzusprechen, also daraufhin, daß er auf Unverfügbares unbedingt angewiesen ist.
Man wird zugestehen müssen, daß der Horizont des Wortes „Gott” sich weiter erstreckt als das soteriologische Problem. Doch auf keinen Fall ist zuzugeben, daß, was „Gott” heißt, am soteriologischen Problem vorbei bestimmbar sei. Wer von dem Worte „Gott” Gebrauch macht und es als sinnvoll gelten läßt, kann sich dabei in keiner andern Situation wissen, als auf Gott angewiesen zu sein. Eignet dem Reden von Gott nicht Notwendigkeit im strengen Sinne, so ist es sinnlos. Das erscheint als problematische Behauptung, insofern, philosophisch geurteilt, allein die Denknotwendigkeit als Notwendigkeit im strengen Sinne gilt. Es wäre aber zu fragen, ob der Begriff der Denknotwendigkeit nicht erst dann in seinem vollen Gewicht ermessen ist, wenn man sich nicht an einem situationsvergessenen Denken orientiert, das von der umfassenden Verantwortung des eigenen Selbst absieht. Im Blick auf ein von Grund auf zur Verantwortung in Anspruch genommenes Denken könnte man, ja müßte man wohl behaupten: dem Reden von Gott eigne Notwendigkeit auch im Sinne von Denknotwendigkeit.
Bestätigt das nicht den Einwand, daß sich hier eine mit soteriologischer Engführung gepaarte anthropologische Engführung verrate? Die erörterten Sätze Luthers klingen verdächtig nach Feuerbachs These, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie[22] und deshalb jene auf diese zu reduzieren sei. Selbst die typische desillusionierende Wendung Feuerbachs „nichts anderes als” findet sich in diesem Zusammenhang: „Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben.”[23] Hier scheint im bedürfnistheologischen Schema gedacht zu sein. Aus der Not wird auf die Hilfe, aus dem Wunsch auf die Erfüllung geschlossen. Es klingt so, als werde Gott in aller Naivität als Geschöpf menschlicher Sehnsucht deklariert: ,, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott.”[24] Was in Sachen rechten Redens von Gott Oben und Unten oder Grund und Folge ist, scheint pervertiert zu sein, wenn es zur Frage des Kriteriums heißt: ,,Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht.”[25] Man sollte meinen, es müsse umgekehrt lauten. Die dann akzeptabel erscheinende Schlußbemerkung über die Zusammengehörigkeit von Gott und Glaube wird durch die Umkehrung des zu erwartenden Richtungssinnes höchst anrüchig: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott. „[26]
Für das Verständnis dieser Sätze ist entscheidend, ob damit, daß ,, Gott haben” als „ihm von Herzen trauen und glauben” bestimmt wird, ein Kriterium gewonnen ist, welches den Schluß rechtfertigt: ,,Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht.” Luther verwendet im folgenden in der Tat den Grund-Satz, daß Gott haben allein im Glauben besteht, als Kriterium, um den Unterschied zwischen Gott und Abgott aufzudecken. Wir beobachten hier eine eigenartige Gedankenbewegung. Daß das Gott Haben als das Trauen und Glauben des Herzens identifiziert wird, dient zunächst dazu, für das, was „Gott” ist, eine so weite Formel aufzustellen, daß sie für den wahren Gott wie für alle Götter paßt: ,,alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott”. Dann aber werden mit Hilfe derselben Formel Gott und Abgott voneinander geschieden. Das Gott Haben ist nämlich in jedem Fall daraufhin zu prüfen, ob hier „haben” wirklich ausschließlich den Sinn von Glauben hat oder aber der Glaube sich auf ein andersartiges Haben stützt und von diesem abhängig ist. Im Falle des Mammons, so argumentiert Luther, besteht das Gott Haben gerade nicht im Glauben, sondern das Glauben im Haben von Geld und Gut. Glaube und Vertrauen sind hier auf die Habe gegründet und brechen folglich mit deren Entzug zusammen. Ein vom Glauben unterschiedenes Gott Haben ist in diesem Fall die Voraussetzung und Bedingung des Glaubens. Ein solcher Glaube ist damit als nicht rechter, nicht reiner Glaube erwiesen. Weil hier der Glaube nicht recht ist, ist auch dieser Gott nicht der rechte Gott.
Dennoch ist auch hier aus guten Gründen von einem Trauen und Glauben des Herzens die Rede. Ohne das könnte gar nicht von Gott die Rede sein. Und ebensowenig wäre dann vom Menschen in seiner Grundsituation die Rede. Diese Grundsituation, die Luther zugleich als Notsituation und als Glaubenssituation charakterisiert, wird außerordentlich treffend gekennzeichnet durch „sein Herz hängen an”. Der Mensch kann gar nicht in sich selbst und aus sich selbst bestehen. Man kann ihn deshalb auch nicht als Substanz begreifen. Er ist überhaupt nur in der Weise, daß und wie er sich auf anderes verläßt. Er befindet sich in der ständigen Bewegung des Heraustretens aus sich selbst. Das gilt schon von der allen Lebewesen eigenen Art, sich mit den Sinnesorganen und Gliedern der Außenwelt zuzuwenden und sie als Lebensmittel in weitestem Sinne in Besitz und Gebrauch zu nehmen. Die animalischen Vorgänge des Atmens, der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung demonstrieren eindrücklich: Der Mensch ist als Lebewesen nicht autark. Er lebt buchstäblich von dem, was nicht er selbst ist. Er kann sein Leben nur erhalten, indem er sich dem hingibt, an das hängt, was nicht er selbst ist. Das gilt nun aber in umfassender Weise auch von allen seelischen und geistigen Lebensvorgängen des Menschen. Schon der Ausdruck ,,Lebensäußerung” ist dafür aufschlußreich, daß das Aus-sich-Heraustreten für Existenz konstitutiv ist.
Der Bedeutung der Außenwelt für den Menschen pflegt man die der Innenwelt entgegenzustellen. Das Herz gilt als Inbegriff dieses Innenraums, in dem der Mensch bei sich selbst ist, sich sozusagen zu Hause befindet als dem Ausgangspunkt seiner Exkursionen und dem Ort des Zur-Ruhe-Kommens durch Einkehr bei sich selbst. Vom „Innern” des Menschen, seiner Innenwelt und seinem inneren Leben zu reden in Unterscheidung vom „Außen” hat zweifellos sein Recht und seine Notwendigkeit. Außen und innen sind komplementäre Ortsbestimmungen. Man kann vom einen nicht reden, ohne das andere gelten zu lassen. Für die Auffassung vom Innern des Menschen ist nun aber entscheidend, ob man allein an der Außenwelt als Gegenüber orientiert ist, und zwar noch dazu in dem flachen Verständnis, das nicht radikal auf die Notwendigkeit des Aussichheraustretens hin fragt, oder ob man auf die Eigenart der Lebensbewegung achtet, die das sogenannte Innere des Menschen vollzieht. Ist doch der Mensch schon deshalb nie bei sich selbst und in sich selbst zu Hause, weil er nichts Fertiges ist. Er ist umgetrieben von dem, was er noch nicht ist und was er nicht mehr ist und was doch in den beiden Ekstasen des Zukünftigen und des Vergangenen zu seinem Selbstsein gehört und es prägt. Das Herz ist deshalb weit davon entfernt, die den Menschen bergende Behausung zu sein. Es ist nicht das Ruhespendende, im Gegenteil, der Inbegriff dessen, was den Menschen in Unruhe versetzt, was ihn ins Vergangene zurück- und ins Künftige vorauslaufen läßt, was ihn hin- und hergerissen sein läßt zwischen dem „nicht mehr” und dem „noch nicht”, also gerade das Ruhe Suchende, das auf eine Behausung aus ist, eine Bleibe begehrt. Zu Hause kann der Mensch nur in dem sein, was außerhalb seiner ist. Das Herz des Menschen ist wesenhaft diese nach außen greifende Bewegung des Menschen auf der Suche nach Halt und Bleibe.
Diesen Sachverhalt kann der Ausdruck „sich verlassen auf” scharf profilieren, wenn man ihn einmal buchstäblich nimmt als die Wegkehr von sich selbst und Einkehr zu einem andern hin. Das Herz des Menschen, das mit Recht als Zentrum des Menschen gilt, ist paradoxerweise selbst die exzentrische Bewegung von sich fort. Wenn Luther formuliert: „Worauf Du nu … Dein Herz hängest und verlässest”, so beschreibt er damit nicht etwas, was der Mensch zuweilen und zusätzlich oder gar zu Unrecht mit dem Herzen tut. Vielmehr ist in allem, was Sache des menschlichen Herzens ist, dies die Grundfunktion, daß der Mensch sich an etwas hängt, sich auf etwas verläßt. Solange das Leben währt, kommt diese Bewegung des Sich-hängens-an und des Sich-verlassens-auf nicht zur Ruhe. Deshalb sind Trauen und Glauben nicht etwas, was sich nur unter anderem und bloß zeitweise im menschlichen Herzen vollzieht. Das Herz selbst ist nichts anderes als der ununterbrochene Vollzug des aus sich heraustretenden Glaubens und Trauens oder eben deren defizienter Modi: des Mißtrauens, Zweifelns und Verzweifelns.
Gott – so erklärt Luther – ist das Woraufhin dieses Sichverlassens, das, woran der Mensch sich anhängt und wovon er abhängt, und zwar in der Weise eines über das Menschsein selbst entscheidenden Vorgangs. Glaube und Gott oder: Herz und Gott – Herz als ständiger Glaubensvollzug in jenem weiten Sinne – oder: Mensch und Gott sind dann in der Tat Komplementärbegriffe. Man kann nicht „Mensch” sagen, ohne daß damit Gott zum Thema wird. Und man kann nicht „Gott” sagen – wenn anders man bedenkt, wer es ist, der „Gott” sagt-, ohne daß damit der Mensch zum Thema wird. Den Aufweis dieses Zusammenhangs als Anthropologisierung Gottes zu kritisieren oder im Sinne Feuerbachs triumphierend zu bejahen, verriete, daß man aus dem dargestellten Sachverhalt schon ausgebrochen ist. Man kann den Begriff des Anthropologischen so nur ins Feld führen, wenn man die Vorstellung zugrunde legt, der Mensch sei eine in sich ruhende Substanz, für die das, was extra se ist, etwas Zusätzliches und „rein äußerlich” in jenem schlechten Sinne ist. Das Herz aber demonstriert, daß der Mensch da ist in der Weise, daß er sich selbst nicht hat. Er kann nur sein, indem er sich an das hängt und auf das verläßt, was außerhalb seiner ist und was eben darum gewissermaßen ihn hat und ihn sein läßt. Die Relation des Externen kommt nicht zum Menschen hinzu, sondern konstituiert sein Wesen.
Der Grundirrtum Feuerbachs war die Meinung, mit der sensationell formulierten These, daß die Anthropologie das Geheimnis der Theologie sei, und mit der provozierenden Reduktion der theologischen auf rein anthropologische Aussagen, am Sachverhalt selbst etwas geändert zu haben. Dieser Eindruck kann nur dann entstehen, wenn man das Entscheidende am Menschsein übersieht, nämlich daß er sein Sein im extra-se-Sein hat, das heißt, daß der Mensch selbst immer schon extra se ist. Die Tendenz, das Glauben und Trauen des Herzens als illusionistische Funktion zu entlarven und zu desillusionieren, steht selbst ganz im Banne jenes objektivierenden Wirklichkeitsverständnisses, gegen das sie sich zu wenden scheint. An einer Vergegenständlichung Gottes, wie man sie aus der Sprache der christlichen Tradition, zumal im Kontext des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses, meint heraushören zu müssen, ist mit Recht Kritik zu üben. Solche Kritik setzt sich aber ins Unrecht, wenn sie durch anthropologisierende Interpretation das Glauben und Trauen des Herzens meint als gegenstandslos erweisen zu können. Gerade weil es Sache des Herzens ist, ist es nicht auf das Herz selbst oder auf etwas im Herzen Befindliches zu reduzieren, sondern verweist auf das, woran das Herz hängt und auf das es sich verläßt. Die subjektivistische Anthropologie Feuerbachs wird nicht dadurch überwunden, daß man ihr objektivistisch widerspricht und damit doch nur in denselben Voraussetzungen befangen bleibt, sondern allein so, daß jener schlecht gedachte Begriff von Anthropologie aufgesprengt wird. Dadurch könnte dem Feuerbachsehen Einwand zur Wahrheit verholfen werden.
Der Verdacht, Luther selbst habe einer soteriologischen und anthropologischen Engführung Vorschub geleistet, scheint durch das Bedenken gestützt zu werden, er sei bei der Auslegung des ersten Gebots einer Verallgemeinerung verfallen, die die theologischen und geschichtlichen Konturen des Textes verwischt. Hätte es nicht dem Proömium „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Landel Agypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt hat”, das Luther bezeichnenderweise übergangen hat, entsprochen, mit der autoritativen Selbstvorstellung Gottes, also mit der Offenbarung- ,,senkrecht von oben” – einzusetzen, der es dann zu überlassen wäre, die verwirrende Menge von Gottesvorstellungen und Glaubensinhalten samt all den abergläubischen Erwartungen und Praktiken und auch dem Unglauben in atheistischer oder agnostischer Gestalt ohne viel Aufhebens zu erledigen? Dann wäre all das gar nicht so fürchterlich ernst und wichtig zu nehmen. Man würde mit etwas Humor sich darüber hinwegsetzen und sich der Tagesordnung zuwenden, die Gott selbst in seinem Wort aufgestellt hat und deshalb einfach zur Kenntnis zu nehmen ist. Warum sollte man nicht auch einmal in solchem Stil theologisch verfahren? Doch nimmt man auf diese Weise die theologische Verantwortungssituation nur dann wahr, wenn man sich der hermeneutischen Bedingungen bewußt ist, welche die assertorische Aussage impliziert. Wer von „Gott” und von „Glaube” ausschließlich im präzisen christlichen Sinne reden will, muß sich über die dabei vorausgesetzte Erwartung im Klaren sein, solches Reden setze sich von selbst zu der Situation, die es vorfindet und in die hinein es ergeht, in unmißverständlicher Weise in Beziehung und deshalb erübrige sich die explizite Reflexion auf das Verhältnis zu dem sonstigen Gebrauch oder Nichtgebrauch der Worte „Gott” und „Glaube”, also die Rechenschaft über das Verhältnis zu den Phänomenen, die durch das christliche Reden von Gott und Glauben in Anspruch genommen sind.
Luther geht so vor, daß er, wie schon angedeutet[27], erstaunlicherweise zwei Auf gaben zu einer einzigen verbindet, die gewöhnlich für verschiedene und schwer miteinander vereinbare Aufgaben gehalten werden: einerseits umfassend weite Allgemeinbegriffe, anderseits präzise Normbegriffe ins Spiel zu bringen.
Auf der einen Seite stellt er Allgemeinbegriffe von „Gott” und „Glaube” auf, mit weitestem religionsphänomenologischen Radius, ja mit einem Anwendungsbereich, der auch noch den Horizont des Religiösen überschreitet, so daß profane Sachverhalte durch das Reden von Gott und Glaube getroffen sind. Was Luther über das Gott Haben ausgeführt hat, verdeutlicht er selbst an „gemeinen Exempeln des Widerspiels”. An dem durchaus unreligiösen Problemmodell des Verhältnisses zum Besitz, auf das wir schon anspielten, wird der Sachverhalt klar, den die Wendung „Gott haben” meint: ,,Es ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles gnug, wenn er Geld und Gut hat, verläßt und brüstet sich drauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er alle sein Herz setzet, welchs auch der allergemeinest Abgott ist auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies, und wiederümb, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird ihr gar wenig finden, die guts Muts seien, nicht trauren noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; es klebt und hängt der Natur an bis in die Gruben.”[28] Will man das, was Luther hier tut, mit einem geschichtlich sehr vorbelasteten Begriff als ein Stück „natürlicher Theologie” bezeichnen, so muß man sich auf jeden Fall dies klarmachen: Die „Natur” des Menschen, auf die er sich hier bezieht, meint den Menschen in Hinsicht darauf, wie er immer schon und ausnahmslos sein Wesen in der Welt treibt, also den Menschen im status corruptionis. Wenn Luther also die Allgemeinheit des Gott Habens behauptet, so geht er dabei gerade von dem Menschen aus, der Gott verloren hat, aber in der Weise „gott-los” ist, daß er Gott nicht los wird, weil er es nicht unterlassen kann, sein Herz an etwas zu hängen. Die Annahme einer allgemeinen Gotteserkenntnis wäre nicht notwendiger Ausdruck dieses Sachverhalts. In dem zitierten Beispiel will Luther nicht behaupten, der so abkonterfeite Mensch nenne selber Geld und Gut, auf die er sich verläßt, seinen Gott. Das naive Heidentum, das irgendwelche Herrlichkeiten der Welt unmittelbar als Gott ansprach, ist – soll man sagen: leider? – durch das Christentum ausgetrieben, normalerweise freilich nur „verdrängt”, in dem Sinne dieses psychoanalytischen Terminus. Das Gottesbewußtsein dient oft genug nur dazu, die faktischen Perversionen des Gott Habens zu verdecken. Also nicht auf ein in jedem Menschen zumindest verborgen schlummerndes Gottesbewußtsein will Luther hinaus. Er behaftet den Menschen vielmehr bei dem unbestreitbaren Phänomen des Vertrauens, das auch und besonders dann, wenn es in Verzweiflung umschlägt, seine Notwendigkeit erweist, aber nicht minder eindrücklich sich zeigt, wenn es steif und sicher sich brüstet mit einer fröhlichen Unerschrockenheit, als sitze man mitten im Paradies. An so allgemeine, so „natürliche” Erfahrungen appelliert Luther, wenn er deutlich machen will, was das Wort „Gott” besagt.
Nun verbindet er damit aber auf der andern Seite eine anscheinend entgegengesetzte Tendenz. Der leere Allgemeinbegriff wandelt sich in einen Normbegriff, der die Fülle des Sachverhalts präzis erfaßt. Um das entscheidende Kriterium für das Reden von Gott zu gewinnen, muß man jene Zusammengehörigkeit von Glaube und Gott so streng festhalten, daß in der Wendung „Gott haben” das Haben allein als Glauben verstanden wird. In jener abgöttischen Perversion ist das Gott Haben zwar auch mit Vertrauen verbunden. Von dem Mammon-Verehrer kann es sogar heißen, er sei fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies. Das wäre in der Tat Ausweis des rechten Glaubens, sofern dabei radikal festgehalten wäre, wovon als allgemeiner Bestimmung ausgegangen ist: ,,Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.” Was daran den Anschein leerer Allgemeinheit hat – was heißt denn „alles Gute”, ,,alle Nöte”?! -, wandelt sich in ein überaus scharfes Kriterium, sofern man dem Experiment standhält, zu dem diese Formulierung provoziert. Man braucht die paradiesische Vergnügtheit und Sicherheit jenes Menschen, der auf Geld und Gut vertraut, nicht erst dem Höllenfeuer „aller Nöte” auszusetzen. Es reicht schon, daß die Hochkonjunktur ein wenig kriselt und die Zuwachsrate sich verringert, um deutlich zu machen, daß hier Haben mit dem Glauben nicht identisch, sondern dessen hinfällige Bedingung ist, so daß der Glaube an der Krisenanfälligkeit jener Habe partizipiert. Es genügt allein schon das Gedankenexperiment, ob man denn auf Geld und Gut sein Vertrauen setzen ·würde und könnte, wenn man es so hätte, als hätte man es nicht, und wenn man es nüchtern und bescheiden jenem Gut zuzählte, dessen man sich von Gott her zu versehen und dessen Gewährung und Entzug man auch ihm zu überlassen hat.
Die übliche theologische Argumentation lautet freilich etwa so: Glaube und Vertrauen sind subjektive Verhaltensweisen des Menschen, deren Recht oder Unrecht, Wert und Unwert von dem Gegenstand abhängen, auf den sie ausgerichtet sind. So kann man das Thema des Glaubens auf sich beruhen lassen, um zum Glaubensgegenstand überzugehen und erst nach dessen dogmatischer Entfaltung noch einmal die fides qua creditur berühren, nachdem die leere Form mit dem rechten Inhalt gefüllt ist. Für Luther ist jedoch der Glaube in keinem Fall eine subjektive, neutrale, leere Form. Glauben ist die schlechterdings lebensnotwendige Bewegung, in der der Mensch sich verläßt auf und sein Herz hängt an das ihm Glaubhafte, von dem her er sich alles Guten versieht und zu dem hin er Zuflucht nimmt in allen Nöten. Man braucht den Glauben nun nur durch alle Situationen durchzukonjugieren, die in diese seine Definition mit inbegriffen sind, und dabei festzuhalten, daß wirklich Glauben gemeint ist und nicht ein Haben oder besser: allein ein solches Haben, das in reinem Glauben besteht. Unter der Schärfe dieses Kriteriums werden schnell jeder Pseudoglaube und jeder Pseudogott entlarvt. Deshalb handelt es sich zugleich um ein Kriterium, ob recht von Gott geredet ist. Es klingt zwar verwegen, daß das „sola fide” Kriterium des rechten Redens von Gott sein soll. Doch ist dies ganz sachgemäß. Es leitet sich aus dem her, was Gott heißt in dem Sinne, wie durch die Erscheinung Jesu das erste Gebot ausgelegt worden ist.
Luthers Verfahren bei der Auslegung des ersten Gebots erscheint mir allen Einwänden zum Trotz als theologisch vorbildlich. Aus dem innersten Kern des biblischen Zeugnisses ist das Kriterium dessen gewonnen, was rechtes Reden von Gott ist, und zwar so, daß alles Reden von Gott, ja auch alles Reden vom Menschen überhaupt dadurch erfaßt und vor das Forum dieses Kriteriums zitiert ist. Der Umgang mit diesem Kriterium ist jedermann im Horizont seiner Erfahrung zumutbar. Die alles umfassende Weite und die ins Schwarze treffende Genauigkeit jener Begriffsbestimmung widerstreiten sich ebensowenig, wie es ein Widerspruch ist, daß gerade die auf das Zentrum ausgerichtete theologische Aussage dazu hilft, die ganze Breite und bunte Lebensfülle der Erfahrung recht zur Sprache zu bringen. Sollte beides nicht zu vereinen sein, so stünde es schlecht mit der Theologie. Wo aber eines zusammen mit dem andern glückt, da öffnet sich eine unerschöpfliche Quelle, auch wenn es nur ein schlichter Katechismustext war, der zum Nachdenken einlud. Man versteht nun vielleicht auch Luthers Klage ein wenig besser, „daß viel meinen, der Katechismus sei ein schlecht, geringe Lehre, welche sie mit einem Mal überlesen und denn also bald alles können, das Buch in Winkel werfen und gleich sich schämen, mehr drinnen zu lesen”[29]; sowie sein Selbstbekenntnis: ,,Ich bin auch ein Doktor und Prediger, ja so gelehrt und erfahren, als die alle sein mügen, die solche Vermessenheit und Sicherheit haben. Noch tue ich wie ein Kind, das man den Katechismon lehret, und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens, und wenn ich Zeit habe, das Vaterunser, zehen Gepot, Glaube, Psalmen etc. und muß noch täglich dazu lesen und studieren und kann dennoch nicht bestehen, wie ich gerne wollte, und muß ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib’s auch gerne.”[30]
[1] Aus einer Vorlesung im Wintersemester 1966/67. Im folgenden ist das Thema noch einmal aufgegriffen, das ich schon in meinem Buch: Luther, Einführung in sein Denken, 1964, 288 ff kurz berührt habe.
[2] Ich zitiere den Großen Katechismus (1529) nach BSLK: Das obige Zitat: 560, 8-10.
[3] 560, 10-15.
[4] Der Text in der von H. GLOCKNER besorgten Jubiläumsausgabe (Bd. 15 und 16), nach der ich zitiere o-ibt die Bearbeitung durch Ph. Marheineke wieder. Ich muß hier auf einen Vergleich mit der Textgestaltung durch G. Lasson (Phil. Bibi. 59 und 61) verzichten.
[5] 15, 104 ff und 114 ff. Es ist in Rechnung zu stellen, daß die Überschriften von
Marheineke stammen.
[6] 15, 104. Hier und im folgenden wird durch Kursivsatz wiedergegeben, was in
der Jubiläumsausgabe durch Sperrdruck hervorgehoben ist.
[7] 15, 106.
[8] 15, 114
[9] AaO
[10] AaO.
[11] 15, 107.
[12] AaO.
[13] 15, 108.
[14] Es ist klar, daß die Ortsangabe durch Schleierrnacher eine genauere Interpretation erfährt, auf die hier aber nicht weiter einzugehen ist.
[15] 560, 7 f.
[16] 560, 8-10.
[17] Von Hugo Cardinalis in seinem Psalmenkommentar zu Ps 38,7 zitiert. Den Fundort bei Augustin vermochte ich leider nicht zu bestimmen.
[18] 560, 10-13.
[19] 560, 13-15.
[20] 562, 10—29: ,,Item, siehe, was wir bisher getrieben und getan haben in der Blindheit unter dem Bapsttumb. Wenn imand ein Zahn wehe täte, der fastet und feiret Sankt Apollonia; fürchtet er sich fur Feursnot, so machet er Sankt Lorenz zum Nothelfer; furchtet er sich fur Pestilenz, so gelobt er sich zu Sankt Sebastian oder Rochio, und des Greuels unzählich viel mehr, da ein iglicher seinen Heiligen wählet, anbetet und anrufet in Nöten zu helfen. Daher gehören auch, die es gar zu grob treiben und mit dem Teufel ein Bund machen, daß er ihn Geld gnug gebe oder zur Buhlschaft helfe, ihr Viech bewahre, verloren Gut wieder schaffe etc., als die Zäuberer und Schwarzkünstige; denn diese alle setzen ihr Herz und Vertrauen anderswo denn auf den wahrhaftigen Gott, versehen sich kein Guts zu ihm, suchen’s auch nicht bei ihm.”
[21] D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. BETHGE, 1951,182.
[22] L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), in: L. Feuerbach, Sämtliche Werke, hg. von F. JonL, II, 222; L. Feuerbach, Kleine philosophische Schriften, hg. von M. G. LANGE (Phil. Bibl. 227), 55.
[23] 560, 13-15.
[24] 560, 15-17.
[25] 560, 17-21.
[26] 560, 21-24.
[27] Vgl. O. S. 296 f.
[28] 561, 9-26.
[29] In der Vorrede von 1530: 547, 11-17.
[30] 547, 29-548, 6.
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